1945 NS-Zwangslager in Berlin

Zu ende, aber nicht vorbei

Freitag, 25. Mai 1945

Rückkehr nach Polen: Maria Kawecka

„30 km fuhren wir mit dem Militär, Richtung Frankfurt (Oder). Es waren zwei Soldaten, die mit einem Pferdewagen fuhren und uns mitnahmen. Dann besorgte einer von ihnen einen Handwagen für uns. So liefen wir die Autobahn Berlin-Frankfurt entlang. Wir schliefen in den Wäldern, da das Wetter schön war. Zum Trinken hatten wir Wein. Immer suchten wir uns ein Gebüsch, jede hatte zwei Decken, wir breiteten die Farnblätter aus, dann die Decken und so schliefen wir. Wir hatten Angst, zu den Deutschen, aber auch zu den Russen zu gehen. Das dauerte sechs Tage. Etwa 10 km vor Frankfurt nahmen uns die Russen mit, dann setzten sie uns unweit vom Bahnhof ab. Aber es gab dort so viele Gleise, die sich kreuzten, dass wir nicht wussten, wie es zum Bahnhof ging. Wir trafen eine Deutsche, die uns den Weg erklärte… Zu essen hatten wir. Doch wir hatten solche Angst vor Hunger, dass wir in diesen sechs Tagen unsere Vorräte nicht verbrauchten… Wir erfuhren, dass ein Zug mit halbwegs normalen Waggons, zwar ohne Dach, aber mit Seitenwänden, bald abfahren sollte. Wir stiegen ein und so kam ich in Łódź an. Ich ging zu meiner Tante, schickte ein Telegramm nach Hause und meine Mutter kam mich abholen. So kam ich zu Hause an. Unsere Landwirtschaft war völlig heruntergekommen. Die Kinder waren inzwischen groß geworden.“

Maria Kawecka ist 24 Jahre alt, als sie im April 1942 aus dem polnischen Piotrów zur Zwangsarbeit nach Güstrow verschleppt wird. Ihr gelingt die Rückkehr nach Polen, doch bei einer Razzia in einer Straßenbahn in Łódź am 17. November 1942 wird Kawecka erneut festgenommen und in ein Lager nach Berlin-Reinickendorf (Walderseestr. 21) verschleppt. Sie muss unter anderem bei der AEG und für die Firma Dr. Klaus Gettwart (Köpenicker Straße 50) in der Produktion von Flugzeug-­ und U­-Bootteilen arbeiten. Als die Fabrik der Firma bei einem Luftangriff im November 1944 schwer beschädigt wird, verlagert der Betrieb die Produktion nach Klausdorf bei Teltow. Hier erlebt Maria Kawecka am 28. April 1945 die Befreiung.

In umliegenden Lagern sammelt Kawecka in den darauffolgenden Tagen mit zwei polnischen Freundinnen Lebensmittel, ständig auf der Hut vor sowjetischen Soldaten, die den polnischen Frauen im Ort nachstellen. Kawecka findet zunächst bei einer polnischen Familie aus Warschau eine Unterkunft, die nach dem Warschauer Aufstand in das Deutsche Reich verschleppt worden war. Sie teilen ihre Vorräte und versorgen sich gemeinsam. Im Juli machen sich Kawecka und eine polnische Freundin auf eigene Faust auf den Heimweg. Im Sommer 1945 sind die Fortbewegungsmöglichkeiten stark eingeschränkt und die Rückreise ist beschwerlich. So berichtet Kawecka: „Die Rückkehr in die Heimat war nicht einfach. Die Züge fuhren nicht, man musste sich anders zu helfen wissen. Meine Kolleginnen und ich luden den Proviant auf einen kleinen Handwagen. Auf diese Weise waren wir gut versorgt und vor Hunger geschützt.“

Lebensmittel sind knapp und müssen oft im Tausch erstanden werden. In Poznań besorgt Kawecka etwas Zucker im Tausch gegen Tabak, den sie zuvor von einem Jungen bekommen hatte. Als sie zuhause ankommt, muss Maria Kawecka feststellen, dass von ihrer alten Heimat nicht viel übrig geblieben ist: „Als die Eltern zurückkamen, gab es dort weder ein Huhn, noch ein Schwein, noch eine Kuh, noch einen Pferdewagen. Es gab einfach nichts. Ich hatte also keine andere Wahl, als mir eine Arbeit zu suchen. So ging ich Richtung Westen.“ Später kehrt sie nach Łódź zurück, heiratet, bekommt zwei Kinder und findet eine Anstellung an der Technischen Hochschule. 2007 verstirbt Maria Kawecka mit 89 Jahren in Łódź.

(Quelle: Interview mit Maria Andrzejewska, geb. Kawecka, Łódź, 22. August 2004; Brief von Maria Andrzejewska an die Berliner Geschichtswerkstatt, Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit)