1945 NS-Zwangslager in Berlin

Zu ende, aber nicht vorbei

Mittwoch, 23. Mai 1945

Befreiung und Nachkriegszeit: Ugo Brilli

„Dann brachen wir auf. Wir gingen Richtung Polen. Manchmal haben sie [die Sowjets] uns angehalten, sie brauchten Arbeiter. Denn sie hatten alle Feldküchen und sie sagten uns, dass wir ihnen bei der Arbeit helfen sollten. Sie ließen uns Kartoffeln schälen, das Gemüse waschen. Am Abend hauten wir wieder ab und gingen weiter… Dann nahmen sie mich fest und brachten mich zu einer Fabrik, um sie zu demontieren. Eine Textilfabrik, die Stoffe machte. Die Maschinen ließen sie uns mit Holz verpacken und zunageln. Wir Italiener waren wirklich froh, sie gaben uns zu essen… Sie brachten sie uns in dieses Lager zurück. Dann brach diese Krankheit aus, und sie ließen uns gehen. Wir Italiener waren unter den Ersten. Es ging das Gerücht um: ‚Morgen geht es heim, es geht nach Italien zurück.‘ Ach du meine Güte, was für eine Freude. Und sie brachten uns bis zum Brenner.“ (Erinnerungen des ehemaligen Zwangsarbeiters Ugo Brilli)

Ugo Brilli wird 1922 als zweites Kind in der toskanischen Gemeinde Pratovecchio geboren. Im Mai 1943 zieht die italienische Armee den 21-Jährigen zum Militärdienst ein. Als Italien im September desselben Jahres aus dem Krieg austritt, nehmen Wehrmachtssoldaten alle italienischen Militärangehörigen fest, so auch Ugo Brilli. Wie viele andere italienische Soldaten auch, weigert sich Brilli, für Hitler und Mussolini weiterzukämpfen. Die Wehrmacht deportiert ihn daraufhin in ein Kriegsgefangenenlager im brandenburgischen Luckenwalde.

Von dort aus kommt Brilli als Zwangsarbeiter nach Berlin. Bei Siemens muss er zunächst Trümmer räumen. Während seiner Gefangenschaft lernt Brilli, sein eigenes Überleben zu sichern: „Als ich in Gefangenschaft geriet, merkte ich schnell, dass ich alles aufklauben musste, was ich konnte. Ob es Kartoffelschalen oder heruntergefallene Zigarettenstummel waren – sie waren für meine Kameraden und mich wertvoller als Gold.“ Zu Beginn seiner Gefangenschaft wiegt Ugo Brilli 71 kg, am Ende nur noch 48 kg.

In einem Zwangsarbeiterlager in Berlin-Weißensee rettet ihm die Arbeit als Küchenhilfe das Leben. Auf dem Schwarzmarkt ersteht Brilli Zigaretten, mit denen er den deutschen Küchenchef besticht, um an seinem Arbeitsplatz bleiben zu können. Die Arbeit in der Küche ist vergleichsweise leichter, und er bekommt mehr zu essen. Ausgestattet mit diesen Privilegien beginnt Brilli bald, seine Kameraden mitzuversorgen.

Als am 7. Mai 1944 eine Bombe in den Unterschlupf seiner Mitgefangenen einschlägt, sterben 53 von ihnen. Brilli überlebt mit großem Glück. Die Befreiung erlebt Ugo Brilli im GBI-Lager 75/76 (heute Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit). Die letzten Kriegstage hatte er in einem Luftschutzkeller abgewartet: „Am zweiten Tag kam … man hörte ein Scheppern und es kam eine Kolonne von Panzern und man sah die Sichel und den Hammer, da war rot … es waren die Russen.“
Die Versorgung bricht zusammen, und Brilli muss in Kellern benachbarter Häuser nach etwas Essbarem suchen: „Ich wollte nicht stehlen, war aber durch den Hunger dazu gezwungen. (…) Plötzlich blickte ich in den Lauf einer Pistole. Der Besitzer verteidigte seine Vorräte und so musste ich ohne Kartoffeln fliehen.“

Doch die Befreiung Berlins bedeutet für Brilli noch nicht das Ende seiner Zeit fernab der Heimat. Die Rote Armee lässt ihn zusammen mit anderen befreiten Italienern Richtung Polen marschieren. Dort werden sie erneut in einem Lager untergebracht und zur Demontage einer Fabrik eingesetzt.

Als sich in dem Lager Typhus ausbreitet, beschließen die Sowjets, die Italiener nach Hause zu schicken. Im September 1945 kehrt Ugo Brilli schwer an Typhus erkrankt zu seiner Familie nach Italien zurück. Er heiratet und bekommt zwei Kinder. Heute lebt er in Norditalien.

Am 9. Dezember 2019 erhält Ugo Brilli das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland als Anerkennung für seinen Beitrag zu einer gemeinsamem Erinnerungskultur in Deutschland und Italien.

(Quelle: Interview mit Ugo Brilli am 22. April 2012 in Campi Bisenzio, Toskana, Sammlung Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit)