1945 NS-Zwangslager in Berlin

Zu ende, aber nicht vorbei

Samstag, 19. Mai 1945

Kaulsdorf: Rekrutierung in die Rote Armee


Vielen Zwangsarbeiter*innen sowjetischer Staatsangehörigkeit (sog. „Ostarbeiter“) bleibt auch nach ihrer Befreiung kaum eine Möglichkeit mit der veränderten Situation umzugehen. Sofern sie bei Kräften sind und nicht der Kollaboration mit dem Feind beschuldigt werden, verpflichtet die Rote Armee sie sofort zur Ableistung ihres Militärdienstes. Bereits während des Vormarschs auf die Reichshauptstadt rekrutierten die sowjetischen Truppen befreite Zwangsarbeiter*innen in die eigenen Reihen. Einige nahmen als Rotarmisten an der Schlacht um Berlin teil. Der ehemalige ukrainische Zwangsarbeiter Sigmund Iwanowitsch Sdorowezkij berichtet: „Unmittelbar nach der Befreiung Anfang April [sic!] wurde ich in die Sowjetarmee einberufen und wurde beim Sturm Berlins eingesetzt. In den Kämpfen um Berlin wurde ich verwundet und verschüttet. Die Sowjetarmee verfuhr mit mir wie mit allen.“

Piotr Emeljanowitsch Besrutschko erinnert sich an seine Befreiung im Lager Kaulsdorfer Straße 90: „Eines Nachts im April wurde ich wach und im Lager waren unsere Panzer, Geschütze und Katjuschas. Die ganze Bewachung war geflohen. Morgens kamen unsere [Soldaten] in die Baracke und sagten, dass wir packen und uns draußen aufstellen sollten. Sie haben uns nach Strausberg geschickt … Am nächsten Tag wurden wir gebadet, wir bekamen Armeeuniformen und so waren wir schon in der Armee.“

Viele befreite Zwangsarbeiter erleben den Einsatz für die Rote Armee als ehrenvolle Aufgabe, so etwa der Wasyl T. Kudrenko, der unmittelbar nach der Befreiung in Berlin für einen Oberleutnant arbeitet: „So vergeht unser Leben, fern von der Heimat, in der Höhle des zerschlagenen, besiegten faschistischen Tieres, das kapituliert hat… Ich habe beschlossen, ohne Schonung meines eigenen Lebens alle Kräfte für das Aufblühen und die Sache der Heimat zu geben.“

Auch jenen die mit Enthusiasmus in den Militärdienst gehen, bleibt jedoch die politische Überprüfung durch Offiziere des sowjetischen Geheimdienstes in der Regel nicht erspart. So notiert Kudrenko am 25. Mai 1945 in sein Tagebuch: „Heute ist mir bekannt geworden, dass ich auf Befehl des Abteilungsleiters zum Durchgangspunkt zwecks Weiterführung in die Sowjetunion fahren muss… Unser sowjetischer Sicherheitsdienst kontrolliert aufmerksam die Menschenströme, weil mehrere Verräter … nach Deutschland durchdrangen. Die Sicherheitskräfte haben immer recht. Ich habe Verständnis. Ich bin ein Unschuldiger, ich wurde unter Zwang verschleppt.“

In den meisten Fällen verzögert die unmittelbare Rekrutierung in die Rote Armee die Rückkehr der ehemaligen Zwangsarbeiter in die Heimat um Monate oder gar Jahre. Der ukrainische Zwangsarbeiter Michail Iwanowitsch Kodasch muss vor 1945 zunächst bei der GASAG in Berlin-Köpenick arbeiten. Anschließend wird er im DEMAG Panzerwerk Berlin-Spandau als Laufbursche eingesetzt. Nach seiner Befreiung im Frühjahr 1945 in Nauen bei Berlin wird Kodasch für vier Jahre in die Rote Armee verpflichtet: „Ich habe als Traktorist gearbeitet. Zu Hause hat mich niemand erwartet.“ 1949 wird er in Halle (Saale) aus dem Militärdienst entlassen.

Nicht nur Männer, auch sowjetische Frauen werden noch auf deutschem Boden von der Roten Armee verpflichtet und zu Arbeiten in unterschiedlichen Abteilungen eingesetzt. Die Ukrainerin N. S. Wladyschtschenko berichtet: „Die Mehrzahl der männlichen Ostarbeiter ging zur kämpfenden Truppe, und ich arbeitete mit anderen Mädchen in der Armeeküche.“

Auch Marfa Semjonowna Buchal aus Dudarkow in der Ukraine erinnert sich: „Uns befreite am 22. April 1945 die Rote Armee. Man schickte uns zu Fuß auf denselben Weg wie die Munition an die Front. In der Sowjetarmee machte uns niemand Vorwürfe… wir wurden aufgenommen wie Verwandte.“

(Quellen: „Zwangsarbeit in Berlin 1938-1945, Hrsg. Arbeitskreis Berliner Regionalmuseen, Berlin: Metropol-Verlag 2003; „So war es. Zwangsarbeit in der Region Dahme-Spreewald,“ Hrsg. Kulturlandschaft Dahme-Spreewald e.V., Zeuthen: 2011; Brief von Michail Iwanowitsch Kodasch an die Berliner Geschichtswerkstatt, Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit; „Das Lagertagebuch des Zwangsarbeiters Wasyl T. Kudrenko,“ Hrsg. Wolfgang G. Krogel, Berlin: Wichern-Verlag 2005)