1945 NS-Zwangslager in Berlin

Zu ende, aber nicht vorbei

Sommer 1945

Schwanenwerder: Familie Schertz

„Das Barackenlager war hochgradig verschmutzt, voller Ratten, und die Räume selbst waren tierisch verwanzt. Der uns zugewiesene Raum für drei Personen war etwa drei mal vier Meter groß… Die ersten Tage und Wochen dienten der Ungezieferbekämpfung... Klar wurde uns dabei natürlich auch, unter welchen Bedingungen die ‚Fremdarbeiter‘, wie sie in den Jahren zuvor bezeichnet worden waren, untergebracht waren.“ (Erinnerungen von Georg Schertz, Anwohner der Insel Schwanenwerder)

Georg Schertz ist 10 Jahre alt, als die Kämpfe um die Reichshauptstadt am 25. April 1945 die Ortsteile Wannsee und Zehlendorf erreichen. Familie Schertz bewohnt ein Haus in der Inselstraße 2 auf der Insel Schwanenwerder, die kurz darauf von sowjetischen Einheiten besetzt wird. Anfang Juni rücken amerikanische Einheiten auf der Insel ein, um die Verwaltung in den künftigen Westsektoren zu übernehmen. Die Villa Baginski in der Inselstraße 16 wird als Quartier für den Oberkommandierenden der US-Streitkräfte ausgewählt und beschlagnahmt. Wenig später händigen amerikanische Behörden Fragebögen an die deutschen Inselbewohner*innen aus, die sofort auszufüllen sind. „Es sollten so alle deutschen Anwohner auf Herz und Nieren geprüft werden, ob von diesen eine Gefahr für General Eisenhower ausgehen könnte,“ erinnert sich Georg Schertz. In den folgenden Tagen laden die Behörden die Anwohner*innen zu Befragungen vor. Etwa zehn von ihnen werden angewiesen die Insel unmittelbar zu verlassen. Familie Schertz erhält eine Erlaubnis, zunächst bleiben zu können.

Am Morgen des 7. August 1945 klingelt es an der Tür des Familienhauses und der 10-Jährige öffnet einem amerikanischen Armeeangehörigen die Tür. Der Vater eilt herbei und nimmt den trockenen Befehl der Dolmetscherin entgegen: „Sie verlassen bis heute 21.30 Uhr das Haus. Sie haben verstanden!“
Mit Familie Schertz werden nun auch die anderen Berliner Bewohner*innen Schwanenwerders zum Verlassen der Insel aufgefordert. Der Auszug wird militärisch abgesichert. Georgs Eltern raffen zusammen was, sie in der kurzen Zeit greifen können. Zunächst ist unklar, wohin die Familie gehen soll. „Es war den Amerikanern auch egal,“ erinnert sich Georg Schertz, „das war aus ihrer Sicht eine deutsche Angelegenheit.“

So wird das ehemalige Zwangslager gegenüber der Wannseeterassen das neues „Zuhause“ der Familie Schertz. Das Lager war in der NS-Zeit zur Unterbringung von zivilen Zwangsarbeiter*innen, Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen errichtet worden. Gemeinsam mit anderen Berliner*innen teilen sie sich hier eine Holzbaracke, pro Familie ein Raum von etwa drei mal vier Metern Größe. Die Stuben sind dreckig und von Ungeziefer befallen. Um ihren Raum zu betreten, muss Familie Schertz den Nebenraum, der einer anderen Familie zugeteilt worden war, durchqueren. „Bei alledem meisterten meine Eltern die Situation irgendwie. Ich kann mit den Monaten, die wir dort verbrachten, nicht die Erinnerung verbinden, sehr gelitten zu haben,“ berichtet Schertz später. Den Weg zur Schule in Zehlendorf legt der Gymnasiast im Herbst 1945 von hier aus zu Fuß durch den Wald und anschließend vom S-Bahnhof Nikolassee mit der S-Bahn zurück. Schertz erinnert sich: „Ein oder zweimal gelang es mir, doch noch in unser Haus auf der Insel zu kommen, vorgeblich um ein Spielzeug herauszuholen. In Wahrheit aber, um unter der Kleidung eine Unterlage mitzubringen, die mein Vater dringend benötigte.“

Als die Amerikaner im April 1946 die Insel verlassen, kehrt die Familie nach Schwanenwerder zurück. Zunächst sehr misstrauisch: Die Nachricht, die Amerikaner hätten die Insel verlassen, hatte sich schon zuvor mehrmals als Gerücht entpuppt. „Wir fanden das Haus völlig offen und so jedermann zugänglich vor,“ berichtet Georg Schertz. „Innen sah es schrecklich aus. Unser gesamter Hausrat war zerbrochen, zertrampelt, verschmutzt.“ Doch diesmal kann die Familie tatsächlich bleiben: „Wir waren wieder zu Hause, nichts war wichtiger.“ Und Schertz bemerkt weiter: „Bei alledem, ich will nicht missverstanden werden, zwar war es wie beschrieben, aber es war eben noch die Zeit der ‚Sieger‘ über ein Nazi-Deutschland, das einen verbrecherischen Krieg angezettelt und großes Unglück über viele Völker und Menschen gebracht hatte.“

(Quelle: Georg Schertz, „Erinnerungen an das Kriegsende und die frühen Nachkriegsjahre in Berlin,“ in: Jahrbuch des Landesarchivs Berlin, Hrsg. Werner Breuning und Uwe Schaper, Berlin: Gebr. Mann Verlag, 2018)