1945 NS-Zwangslager in Berlin

Zu ende, aber nicht vorbei

Sonntag, 27. Mai 1945

Befreiung und Emigration: Leonie und Walter Frankenstein

„Wir wollten mit diesen Deutschen nicht zusammenleben. Ich hätte sie alle umbringen können. Die Russen haben damals gesagt, sie wollten aus ganz Deutschland einen Kartoffelacker machen. Wir dachten: ‚Sollen sie es nur machen! Wir hätten diese wirklich elegant eingerichtete Wohnung mit ihren schönen Möbeln behalten können… Mit der Arbeit hätte es auch schon irgendwie geklappt. Aber wir wollten nichts wie weg… Diese Deutschen erzählten: Oh wir haben von nichts gewusst. Wir kennen auch einen Juden, der sehr nett gewesen sei. – Es wurde einem übel davon.“ (Erinnerungen der ehemaligen Zwangsarbeiterin Leonie Frankenstein, Lebensgefährtin von Walter Frankenstein)

Walter Frankenstein wird 1924 als Kind jüdischer Eltern im westpreußischen Flatow (heute Złotów) geboren. Dort betreiben seine Eltern eine Schankwirtschaft und einen Krämerladen. 1929 stirbt Walters Vater an einer Lungenentzündung. Zu seinem Vormund wird nun sein Onkel Selmar bestellt, der in Berlin eine Arztpraxis betreibt. Ab 1936 ist es Walter als Jude verboten, die öffentliche Schule zu besuchen. Doch seinem Onkel gelingt es, ihm einen Platz im Auerbach‘schen Waisenhaus in der Berliner Schönhauser Allee 162 zu vermitteln. Hier lernt Walter seine spätere Ehefrau, Leonie Rosner, kennen. Die beiden verlieben sich.

In Berlin besucht Walter als leidenschaftlicher Fußballfan regelmäßig die Spiele des Berliner Fußballclubs Hertha BSC in der „Plumpe“, dem ehemaligen Stadion am Gesundbrunnen. 1939 macht die nationalsozialistische Gesetzgebung auch die Stadionbesuche unmöglich. Walter beginnt eine Maurerausbildung an der Bauschule der Jüdischen Gemeinde. Doch wie alle „arbeitsfähigen Juden“ müssen Walter und Leonie bald Zwangsarbeit leisten. Leonie kommt 1941 in eine Fesselballon-Fabrik in Berlin-Tempelhof. Walter wird vom SS-Reichssicherheitshauptamt angefordert und zunächst in der Emser Straße 14 in Berlin-Wilmersdorf, dann auch in anderen SS-Ämtern in Berlin für Reparaturarbeiten eingesetzt. Das Paar ist nun der ständigen Gefahr der Deportation ausgesetzt.

1942 heiraten Walter und Leonie trotz der widrigen Umstände. Im darauffolgenden Jahr bringt Leonie den gemeinsamen Sohn Peter-Uri zur Welt. Nur fünf Wochen nach der Geburt beschließt die Familie unterzutauchen. Sie verstecken sich in ausgebombten Häusern und finden schließlich Zuflucht bei Freunden: zunächst in Leipzig bei Leonies Stiefvater Theodor Kranz, dann bei Christen in Berlin. Aus Angst entdeckt zu werden gelingt es Leonie schließlich, gemeinsam mit ihrem Sohn unter nicht-jüdischer Identität einen Unterschlupf bei einer Bäuerin in Brisenhorst (Brzeźno) zu finden. Walter bleibt in Berlin und versucht der Familie so ein Einkommen zu sichern. Er betätigt sich auf dem Schwarzmarkt wo er auch andere untergetauchte Juden und Jüdinnen (sog. „U-Boote“) kennenlernt. Im Krankenhaus Landsberg an der Warthe wird im September 1944 Michael, der zweite Sohn des Ehepaares, geboren.

Im Frühjahr 1945 kehrt Leonie schließlich mit den Kindern zurück in die Reichshauptstadt. Die letzten Kriegstage erlebt die Familie unter anhaltendem Artilleriebeschuss in einem öffentlichen Bunker am Kreuzberger U-Bahnhof Kottbusser Tor. Am 28. April 1945 werden die Frankensteins endlich von sowjetischen Truppen befreit. Sie geben sich als Juden zu erkennen, doch schon bald kommen unter den sowjetischen Offizieren Zweifel auf. Leonie erinnert sich: „Sie sagten, es hätten schon so viele Deutsche behauptet, Juden zu sein. Seit 1936 gebe es doch gar keiner Juden mehr in Deutschland. Und dann hätten sie uns im Bunker zusammen mit deutschen Frauen und Kindern gefunden.“ Doch dem Ehepaar gelingt es, die Offiziere von ihrem Bericht vom Leben in der Illegalität zu überzeugen.

Die Frankensteins beziehen zunächst eine Wohnung in der Emser Straße 6 in Berlin-Neukölln. Die Unterkunft hatte Walter über Kontakte zu einer kommunistischen Gruppe aufgetan: „Wir erzählten ein bisschen von uns und sagten, dass wir eine Wohnung bräuchten. Sie boten uns eine Vierzimmerwohnung in Neukölln an. Da hatten vorher Nazis gewohnt.“ In der Wohnung finden Walter und Leonie Unterlagen der NSDAP, eine Parteiuniform und eine Pistole, so erinnert sich Walter: „Ich nahm die Pistole in die Hand und die Uniform unter den Arm und lief damit zu dieser kommunistischen Zelle. Ich war ja so naiv: Wenn mich ein Russe gesehen hätte, der hätte mich glatt auf der Straße erschossen.“

Doch schnell steht für die Familie fest, dass sie in diesem Land nicht bleiben möchte. Noch im November 1945 gelingt Leonie mit den Kindern die Emigration in das britische Mandatsgebiet in Palästina. Walter wird bei dem Versuch von britischen Behörden gefasst und wegen illegaler Einwanderung zunächst auf Zypern, dann in Palästina in einem Lager interniert. Erst im Spätsommer 1947 findet die Familie wieder zusammen. Mit der Ausrufung des israelischen Staates 1948, wird Walter zum Wehrdienst einberufen. 1956 emigriert die Familie schließlich nach Stockholm, wo Leonie Frankenstein am 19. Mai 2009 verstirbt.

Bis heute besucht Walter Frankenstein regelmäßig Berlin und tritt als Zeitzeuge auf, um von seinen Erlebnissen zu berichten. Für sein Engagement erhält er am 30. Juni 2014 das Bundesverdienstkreuz. 2018 besucht Walter zum ersten Mal seit dem Ende des Krieges ein Fußballspiel seines Lieblingsvereins Hertha BSC – auf einer Ehrenloge im Olympiastadion. Der Verein hat ihm die Ehrenmitgliedschaft mit der Nummer 1924 verliehen, seinem Geburtsjahr.

(Quelle: Klaus Hillebrand, „Nicht mit uns. Das Leben von Leonie und Walter Frankenstein,“ Frankfurt a.M: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2008)