Mittwoch, 9. Mai 1945
Heimkehr? - Zwischenlager Berlin-Biesdorf
„Aus umliegenden Häusern hatten die Menschen Nähmaschinen herangeschafft, mit denen sie aus Stoffresten Nationalfahnen ihrer Herkunftsländer anfertigten.” (Erinnerungen des Anwohners Werner Sedlick)
Der Berliner Werner Sedlick ist 14 Jahre alt, als der Krieg im Frühjahr 1945 in Berlin zu Ende geht. Mit seiner Familie wohnt er in einem Haus in Berlin-Biesdorf. Der Vater ist als Krankenpfleger im Krankenhaus Wuhlgarten (später Wilhelm-Griesinger-Krankenhaus) tätig. Im Mai 1945 wird in einer Baracke gegenüber des Hauses der Familie eine Kfz-Werkstatt von sowjetischen Soldaten eingerichtet, die zu der Familie bald einen freundlichen Kontakt pflegen. Nicht weit entfernt entsteht ein „wildes” Übergangslager für befreite Zwangsarbeiter*innen:
„Wenige Wochen nach Kriegsende entstand auf dem freien Acker zwischen Grabensprung und Köpenicker Straße, nördlich vom Bahndamm, ein Sammellager für befreite Zwangsarbeiter. Dort hausten unter primitivsten Bedingungen für etwa 2-3 Monate über 1.000 Frauen und Männer. Italiener, Polen und sogenannte Ostarbeiter…
Da mein Vater im Krankenwesen tätig war, ergab sich, dass er des Öfteren im Lager Kranke und Verletzte versorgte. Hin und wieder nahm er mich zur Unterstützung dorthin mit. Bislang brutal ausgebeutet, waren die befreiten Zwangsarbeiter, gleich welcher Herkunft, nun für zwischenmenschliche Hilfeleistung sehr dankbar … Die meisten der ehemaligen Zwangsarbeiter wohnten in selbst gebauten Zelten und Hütten. Die Materialien und Einrichtungen dafür hatten sie sich aus umliegenden Gärten und Wohnungen geholt. Die gegenüberliegende Gärtnerei nutzten die Menschen, um ihre Notdurft zu verrichten. Das Zusammenleben dort war auch von häufigen Handgemengen geprägt. Immer wieder gab es auch Verletzte.
Von dem Sammellager aus erfolgte der Abtransport der befreiten Fremdarbeiter in die Heimat. Zumeist fuhren sie auf Pferdewagen in Richtung Bahnhof Kaulsdorf. Organisiert wurde der Transport vermutlich von sowjetischen Soldaten.”
Auch der ehemalige französische Zwangsarbeiter Jean René erinnert sich an ein solches Lager:
„9. Mai: Wir wissen nicht, wie es weitergeht. Momentan sind wir in Biesdorf… Letzte Nacht habe ich nicht viel geschlafen. Die Nächte sind zu kalt, um unter freiem Himmel zu schlafen, deshalb haben wir eine kleine Baracke aufgebaut... Wir sind um die 20.000 und es kommen von allen Seiten immer mehr dazu. Es wird bestimmt ein Zwischenlager daraus. Menschen aus allen Ländern, die aufgeteilt werden sollen. Heute Nachmittag haben wir offiziell erfahren, dass der Krieg vorbei ist… Wenn doch nur ein Befehl käme, dass wir dieses Unglücksland verlassen können.“
(Quellen: Interview mit Werner Sedlick am 17. März 2020; Jean René und Hervé, „Ein Spielball in den Wirren des Krieges. Tagebuch eines Kriegsgefangenen, Saint-Denis: Edilivre, 2017)