1945 NS-Zwangslager in Berlin

Zu ende, aber nicht vorbei

Montag, 7. Mai 1945

Hunger: "Lasst euch nicht umbringen, denn die Deutschen sind bösartig."

In den Tagen kurz vor und unmittelbar nach der Kapitulation der Reichshauptstadt am 2. Mai 1945 kommt es immer wieder zu Einbrüchen in Kellern, Wohnungen oder Lebensmittellagern durch befreite Zwangsarbeiter*innen. Auch gewaltsame Vergeltungsaktionen gegen Deutsche bleiben nicht aus. So erinnert sich die ehemalige polnische Zwangsarbeiterin Aleksandra Reniszweska:

„Eine Freundin und ich fuhren zu den Jungs ins Lager. Zurückkehren konnten wir nicht mehr, da die sowjetischen Truppen sehr schnell anrückten. Auf dem Appellplatz erhängten die Jungs den Lagerführer, der angeblich sehr gemein war. Als die Deutschen den Beschuss von der anderen Seite der Spree in Richtung sowjetischer Spähtruppen begannen, befürchteten wir, sie könnten dieses Ufer wiedererobern. Hätten sie den aufgehängten Lagerführer gesehen, so hätten sie uns bestimmt alle erschossen.“

In manchen Fällen reagierten die ehemaligen Zwangsarbeiter*innen mit Racheaktionen auf die massive Repression, der sie den gesamten Krieg über ausgesetzt waren: Durch Vorgesetzte, Meister oder Lagerleiter. Besonders in den letzten Kriegswochen hatten sich willkürliche Gewaltexzesse gegenüber Zwangsarbeiter*innen und gezielte Erschießungsaktionen durch SS-Einheiten auch in Berlin gehäuft.

Ebenso veranlasste die katastrophale Versorgungslage viele Befreite zu Einbrüchen in Vorratslagern oder Wohnungen. Die ehemalige polnische Zwangsarbeiterin Kazimiera Czarnecka berichtet:

„Es ist etwas Merkwürdiges passiert. Es gibt den uniformierten Lagerführer Zielke nicht mehr, keine Wachmänner… Die Küche bleibt geschlossen und gibt kein Essen aus. Wir sind hungrig. Jemand kommt mit der Nachricht, dass die Männer die Schlösser zum Lebensmittelmagazin aufbrechen, und dass man dort etwas zu Essen finden kann. Im Magazin gab es Säcke mit Grieß und Zucker. Es waren Delikatessen. Während unseres ganzen Aufenthalts im Lager hatten wir nie einen Gramm Zucker bekommen.“

Auch der befreite italienische Zwangsarbeiter Ugo Brilli erinnert sich an die Tage unmittelbar nach Kriegende:

„Er herrschte Chaos… die Deutschen hauten ab. Wir gingen in die Keller, um etwas zu Essen zu finden… Drei Tage grünes Licht hatten uns die Russen gegeben - ihr könnt machen, was ihr wollt, aber seid vorsichtig, lasst euch nicht umbringen, denn die Deutschen sind bösartig.“

Die Wahrnehmung der „plündernden und marodierenden Ausländer“ spielt in der noch maßgeblich von der NS-Propaganda beeinflussten deutschen Wahrnehmung der ersten Maitage eine große Rolle. Sie prägt auch später oft die Erinnerung an das Frühjahr 1945. Der deutschen Öffentlichkeit kommen solche Berichte, so scheint es, nicht ganz ungelegen. Überdecken sie doch das schlechte Gewissen über die brutale Behandlung vieler Zwangsarbeiter*innen - vor allem jener aus der Sowjetunion.
Diese oft wiederholte Erzählung lässt jedoch außer Acht, dass im Großen und Ganzen die Kriminalitätsrate der Nachkriegszeit bei den Displaced Persons nicht viel höher liegt als die der Deutschen. Im Gegenteil: Die Straffälligkeit der einheimischen Bevölkerung stieg nach dem Krieg signifikant an.

(Quellen: Brief der ehemaligen Zwangsarbeiterin Aleksandra Jelinek, geb. Reniszewska vom 17. November 1997 an die Berliner Geschichtswerkstatt, Brief der ehemaligen Zwangsarbeiterin Kazimiera Kosonowska an die Berliner Geschichtswerkstatt und Interview mit Ugo Brilli am 22. April 2012 © Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit; Volker Ulrich, „Acht Tage im Mai,“ München: C.H. Beck, 2020)