1945 NS-Zwangslager in Berlin

Zu ende, aber nicht vorbei

Montag, 21. Mai 1945

Heimkehr: Pietro Cavedaghi

„Es ist der 21. Mai, 9 Uhr morgens. Während ein Kamerad von mir isst, verbringe ich etwa eine Stunde damit, die Landkarte zu studieren, um zu sehen, welches der beste Weg nach Hause ist. Während ich die Landkarte betrachte, kommt plötzlich ein russischer Soldat vorbei und bleibt an der Tür stehen. Er ist schon etwas betrunken. Ich sitze mit der Landkarte in der Hand am Tisch und habe nicht daran gedacht, sie wegzulegen. Denn einige Russen, die den Grund dafür nicht verstehen, könnten mich für einen Spion halten. Es stimmt zwar, dass der Krieg vorbei ist, aber man kann nie wissen. Und genau das passiert jetzt tatsächlich.

Der Russe nimmt mir die Karte aus der Hand und zieht mit seiner rechten Hand eine große Pistole, die er vor mir entsichert und auf meinen Kopf richtet. Als mein Kamerad Bertelli das sieht, versucht er mir zu Hilfe zu kommen. Aber der Russe versteht nicht und richtet die Waffe auf ihn. Er soll wieder zurückgehen. Die Waffe drückt er mir wieder an den Kopf.

Der Russe fragt mich, was ich mit der Landkarte vorhatte. Ich antworte ihm, dass ich mir die Wege zurück nach Italien anschaute. Er versteht nicht. Und dann ist das Übel, dass ich mit ihm Deutsch spreche und er denkt, ich sei Deutscher.

Etwa 10 Minuten lang hielt er mir die Pistole an den Kopf und fragte mich, was ich mit der Landkarte vorhatte. Ich antwortete, und er verstand nicht. Ich hatte keine Hoffnung mehr. Plötzlich beschließt er, mich zu fragen, ob ich Italiener bin. Ich antworte ja, darauf gibt mir der Russe zufrieden die Karte zurück.

Er steckt die Pistole ins Futteral, verabschiedet sich von mir und sagt mir noch ‚Italiano gut-Bravo. Bald werdet ihr nach Hause fahren‘. Ich kehre immer noch ganz aufgelöst zu meinen Kameraden ins Haus zurück.“

(Aus dem Tagebuch des ehemaligen italienischen Zwangsarbeiters Pietro Cavedaghi)

Pietro Cavedaghi ist 19 Jahre alt, als er am 12. September 1943 von der Wehrmacht in Pinerolo gefangen genommen und in das Deutsche Reich verschleppt wird. In Berlin muss er für die Siemens-Schuckertwerke Zwangsarbeit leisten. Unmittelbar vor Kriegsende zwingen SS-Einheiten Cavedaghi und andere Zwangsarbeiter von einem Lager in Berlin-Schöneweide aus, auf einen Marsch in Richtung Spandau. Als die Bewacher plötzlich fliehen, setzt die Gruppe ihren Weg in Richtung Westen vor. Cavedaghi hofft so möglichst schnell die Frontlinie der Roten Armee zu erreichen. Am 24. April 1945 trifft die Gruppe in dem Dorf Satzkorn, bei Potsdam, auf die ersten sowjetischen Soldaten. Die Rotarmisten quartieren ihn und seine Begleiter in die umliegenden deutschen Häuser ein. Sie werden zur Arbeit in einem nahe gelegenen Lagerhaus eingeteilt. Das verschafft Cavedaghi die Möglichkeit sich mit ausreichend Lebensmitteln zu versorgen. In den darauffolgenden Tagen erlebt der Italiener die anhaltenden Kämpfe und die Rückeroberung des Dorfes durch deutsche Einheiten. Erst am 4. Mai wird Satzkorn endgültig von sowjetischen Truppen besetzt. Am 21. September 1945 erreicht Pietro Cavedaghi Italien.

(Quelle: Pietro Cavedaghi, „Der Schmerz und die Erinnerung. Tagebuch der Gefangenschaft in Deutschland 1943-1945,“ Hrsg. Daniela Cavedaghi, Grafo 2005)