Samstag, 12. Mai 1945
Heimkehr? Wasyl Timofejewitsch Kudrenko
"Ich verließ das verfluchte, zerstörte Berlin. In dieser Stadt habe ich zweieinhalb Jahre gelebt. Ich gehörte jetzt zu einer sowjetischen Militäreinheit. Uns wurde befohlen, um 6.00 Uhr die Stadt zu verlassen und uns Richtung Oder zu bewegen. Wir gingen zu Fuß und begleiteten gefangene Faschisten. Wir gingen von 6.00 Uhr früh bis zur Mitternacht. Der Tag war heiß...
Am Himmel sah man Hunderte sowjetischer Flugzeuge, neben uns fuhren blitzschnell gepanzerte Fahrzeuge und Motorräder... Wir übernachteten in einem Dorf. Um 6.00 Uhr früh waren wir wieder unterwegs. Auf dem Weg holten uns unsere LKWs ein. Wir durften einsteigen und eine Strecke mitfahren. Damit erreichten wir unser Ziel sehr schnell…
Unsere Einheit wurde in einem Dorf stationiert. Ich war nach diesem ungewöhnlich langen Marsch erschöpft... Nach dem Schlaf rief mich Subzov, Oberleutnant der Garde. Er sagte: 'Wenn du willst, kannst du bei uns bleiben. Du musst dann alle Befehle ausführen und einfach ein guter Kerl sein.' Ich antwortete: 'Jawohl, Genosse Oberleutnant' Seitdem diene ich als sein Helfer."
Wasyl Timofejewitsch Kudrenko ist 16 Jahre alt, als er 1943 aus dem ukrainischen Dorf Balaklija nach Berlin verschleppt wird. Als „Zwangsverpflichteter“ muss er auf den Berliner Friedhöfen Gräber ausheben. Gemeinsam mit ca. 100 anderen „Ostarbeiter*innen“ lebt Kudrenko in einem von der evangelischen Kirche betriebenen Zwangslager auf dem Friedhof der Jerusalems- und Neuen Kirchengemeinde an der Neuköllner Hermannstraße. In seinem Tagebuch notiert er Tag für Tag seinen Blick auf das Leben im Lager, die harte Arbeit, den Hunger und die alltägliche Bedrohung durch Bomben und Gestapo.
Nach seiner Befreiung am 24. April 1945 durch die Rote Armee, steht Kudrenko zunächst im Verdacht, als Vaterlandsverräter mit den Nazis kollaboriert zu haben. Wie Hunderttausende andere befreite "Ostarbeiter" ist er zunächst den Verhören des sowjetischen Geheimdienstes ausgesetzt.
Am 25. Mai erhält er die Aufforderung, sich vor der Rückreise in die Sowjetunion im Durchgangslager Töpchin bei Zossen zu melden. Hier erfährt er, dass alle ehemaligen Mitinsassen aus dem Friedhofslager unmittelbar nach der Befreiung zum Wehrdienst in die Rote Armee einberufen worden sind.
Am 1. Juni wird Kudrenko von einem sowjetischen Leutnant im Durchgangslager Töpchin verhört. In seinem Tagebuch notiert er: "Heute wurde ich von einem Leutnant verhört, der mein Tagebuch gelesen hat. Er fragte: 'Sie sagten im November 1944 deutschen Arbeitern, dass bald Stalin kommt. Die Gestapo wusste das. Warum wurden Sie nur verhört und nicht verhaftet!?' Ich beteuerte: 'Ich bin im kommunistischen Geist erzogen worden, ein einfacher Sowjetmensch, unter Zwang nach Deutschland verschleppt. Mein Leben war gefährdet. In Deutschland verhielt ich mich als echter Patriot.' Der Leutnant behauptete, ich lüge."
(Tagebuch, Samstag, 9. Juni 1945)
Kudrenko gelingt es, den Leutnant von seiner Loyalität zu überzeugen. Zwei Tage später darf er sich auf den Weg Richtung Osten machen. Mit dem Zug gelangt Kudrenko über Cottbus und Glogow in das schlesische Rawicz. Hier muss er sich einem weiteren Verhör in einem sowjetischen Durchgangslager stellen. Im Lager werden alle registrierten Jahrgänge 1920-27 für die landwirtschaftliche Arbeit nahe Hermannstadt eingeteilt. Erst am 29. August 1945 erhält Kudrenko seine Dokumente für das Prüfverfahren und wird von Rawicz aus nach Hause geschickt. Von der "leuchtenden Zukunft der Sowjetunion" ist er weiterhin überzeugt.
Am 16. Oktober 1945 erreicht Kudrenko sein Elternhaus in Balaklija. Hier enden auch seine Tagebuchaufzeichnungen. Sein Heimatdorf ist größtenteils abgebrannt. Vor der Befreiung, so erinnert sich Kudrenko später, hatte er mit einer Rückkehr aus Deutschland nicht mehr gerechnet.
(Wasyl Timofejewitsch Kudrenko, „Bist du Bandit?“ Das Lagertagebuch des Zwangsarbeiters Wasyl Timofejewitsch Kudrenko, Berlin: Wichern-Verlag 2005, S. 132f.)