1945 NS-Zwangslager in Berlin

Zu ende, aber nicht vorbei

Sonntag, 6. Mai 1945

Berlin Buchholz: Józefa Irena Łyskanowska-Kuncewicz

„Die Zeit der Befreiung war für mich das Schlimmste. Ich hatte kein Obdach, nichts zu essen, ich fürchtete mich, auf die Straße zu gehen, wo noch Schießereien andauerten und Unmengen von sowjetischen Soldaten waren…
Ich blieb in Kontakt mit der [deutschen] Familie, bei der ich gearbeitet hatte, d.h. mit der Familie Pieel in Buchholz. Nach der Befreiung beschloss ich, sie zu besuchen. Als die Chefin hörte, ich habe kein Obdach und nichts zu essen, schlug sie mir gleich vor, zu ihnen zu ziehen. Ihre Tochter überließ mir ihr Zimmer. So war ich in Sicherheit und nicht mehr hungrig.“

(Erinnerungen der ehemaligen polnischen Zwangsarbeiterin Józefa Irena Łyskanowska-Kuncewicz)

Józefa Irena Łyskanowska-Kuncewicz ist 17 Jahre alt, als sie im März 1940 aus dem polnischen Dorf Chabielice, bei Łódź, nach Berlin verschleppt wird. Im Stadtteil Buchholz muss sie für die Gärtnerei Otto Pieel arbeiten, zunächst im Treibhaus, später auf dem Acker. Im Sommer dauern die Arbeitszeiten oft von 5 Uhr morgens bis 8 Uhr am Abend. Untergebracht ist Józefa Kuncewicz im Haus der Familie Pieel, wo sie vergleichsweise gut behandelt wird. Als der Winter anbricht und es in der Gärtnerei nicht mehr viel Arbeit gibt, wird Józefa Kuncewicz auf einen Gutshof in Berlin-Buch geschickt. Hier muss sie auf einem Kartoffelacker schwere Akkordarbeit leisten. Als Kuncewicz kurze Zeit später auf dem Arbeitsamt erscheint, um ihren Arbeitsplatz zu wechseln, nimmt die Polizei sie fest. Sie verbringt zwei Wochen unter furchtbaren Bedingungen im Spandauer Gefängnis.

Im Winter 1943 wird Kuncewicz in ein Lager im Bezirk Tempelhof verlegt. Sie arbeitet nun in Schöneberg für die Firma Siemens. Zur Arbeit gelangt sie gemeinsam mit der gesamten Schichtgruppe in der Straßenbahn. In Tempelhof erlebt Józefa Kuncewicz einen schweren Luftangriff, bei dem auch ihr Lager getroffen wird. Sie erinnert sich: „Unser Lagerführer sagte: ‚Ihr Polinnen steht in Gottes Gunst.‘ Denn nur unsere Baracke blieb unversehrt. Eine Bombe fiel durch das Dach in das Bett meiner Kollegin hinein, aber Gott sei Dank, es war ein Blindgänger.“

Als Teile der Siemens-Produktion wegen der Luftangriffe nach Zittau verlegt werden, schickt man Kuncewicz an den Siemens-Produktionsstandort in der Grüntaler Straße 63 im Ortsteil Gesundbrunnen. Hier erlebt sie im Mai 1945 das Kriegsende. Als sie wenige Tage später das Haus der Familie Pieel aufsucht, kommt sie dort unter, hilft im Garten und im Haushalt. Im Juni 1945 lädt die sowjetische Kommandantur in Berlin Kuncewicz vor und schickt sie zurück nach Polen. Hier trifft sie auch ihre Familie wieder.

(Quelle: Brief der ehemaligen polnischen Zwangsarbeiterin Józefa Irena Łyskanowska-Kuncewicz an die Berliner Geschichtswerkstatt, 24. Januar 1998)