1945 NS-Zwangslager in Berlin

Zu ende, aber nicht vorbei

Dienstag, 15. Mai 1945

U-Bahnhof Alexanderplatz: Marcel Elola

„Nach diesem anstrengenden Tag sind wir in unsere Unterkunft zurückgekehrt, haben von Herzen gegessen und sind dann in den nächtlichen Schlaf verfallen. Am nächsten Tag sind die Russen wiedergekommen und ließen uns wissen, dass sie Freiwillige für den Kampf gegen die Nazis suchten. Nach allem, was wir von dieser Armee erfahren hatten …, meldete sich niemand von uns freiwillig. Das war sicherlich der auslösende Grund, dass die Sowjets dafür entschieden, unsere Abreise vorzubereiten. Im Laufe des Tages wurden Wächter an allen Ausgängen postiert. Unsere Abreise in die Sowjetunion stand bevor, aber niemand war sich dessen bewusst. Hätten wir gewusst, was uns erwartet, hätten sich viele von uns sicherlich in der Nacht in die Felder geschlagen.“
(Erinnerungen des französischen Zwangsarbeiters Marcel Elola)

Marcel Elola ist 21 Jahre alt, als er im März 1943 in Paris von der französischen Polizei gefangenen genommen und den deutschen Besatzern übergeben wird. Als Zwangsarbeiter wird er zunächst nach Oranienburg gebracht, hat jedoch Glück: Als gelernter Fleischer kommt er in einem privaten Betrieb in Berlin-Schöneberg unter. Später wird er einem SS-Versorgungsbetrieb zugeteilt, wo er knapp einen Bombeneinschlag überlebt. Aufgrund seiner Arbeit in der Lebensmittelversorgung, hat Elola Zugang zu wichtigen Nahrungsmitteln, was ihm das Überleben sichert. Andere Zwangsarbeiter*innen werfen ihm deshalb Kollaboration mit den Deutschen vor. Nach schweren Bombenangriffen, die das Lager zerstören, kann Elola gemeinsam mit anderen Internierten eine Wohnung in der Stadt beziehen.

Mitte April 1945 erlebt Marcel Elola den anhaltenden Beschuss Berlins durch die Alliierten im U-Bahnhof Alexander Platz. Hunderte Menschen suchen Schutz auf den Bahnsteigen des Berliner Tunnelsystems. Hier beobachtet Elola, wie Einheiten der SS und der Feldgendarmerie ununterbrochen Papiere kontrollieren und Deserteure zum Erschießen in den U-Bahntunnel führen. Kurz darauf müssen auch alle „Ausländer“ den Bahnhof verlassen und werden von bewaffneten SS-Einheiten als Marschkolonne durch das Stadtzentrum in Richtung Westen geführt. Erst als am nächsten Morgen die Bewacher davonlaufen, begreift Elola, dass die Rote Armee nicht mehr weit weg ist. In einem Dorf kurz vor Nauen erlebt er die Befreiung: „Gegen 18 Uhr am Abend wird die sowjetische Fahne mit Hammer und Sichel in der Mitte des Hofes gehisst. Mit dem, was gerade zur Hand ist, fabrizieren wir eine französische Flagge. Die Soldaten stimmen nach langem Hin und Her zu, sie neben der russischen Flagge zu hissen. Ein Pole muss übersetzen.“

Von den Rotarmisten werden Elola und die Anderen nun zur Einebnung eines Flugplatzes auf einem nahegelegenen Feld eingesetzt. Die Arbeit ist hart und erschöpfend. Wenige Tage später lässt man sie auf LKWs steigen. Stoßstange an Stoßstange fahren sie in einem langen Zug in Richtung Osten. Auf den Ladeflächen sitzen Italiener, Niederländer, Serben, Polen und einige Franzosen. Auch ehemalige sowjetische Kriegsgefangene sind unter ihnen. Als die Kolonne nach 1.200 km ein Lager kurz vor Odessa erreicht, beschließt Elola zu fliehen. Gemeinsam mit zwei Niederländern und zwei Deutschen gelingt es ihm, die Wachen zu umgehen. Den deutschen Fahrer eines Versorgungs-LKWs können sie überreden, die Gruppe mit in Richtung Westen zu nehmen. Am Morgen des 19. Mai 1945 erreichen sie Fürstenwalde. Elola kehrt nach Berlin zurück, um von dort aus einen Weg in seine Heimat zu finden. Am 6. Juni 1945 erreicht er den Bahnhof Gare de l’Est in Paris. „Später,“ so erinnert sich Elola, „haben wir erfahren, dass die übrigen, nicht aus dem Lager in Odessa geflüchteten Franzosen erst viele Jahre später aus der UdSSR zurückgekommen sind.“

(Marcel Elola: „Ich war in Berlin“. Ein französischer Zwangsarbeiter in Deutschland 1943-1945, Berlin: Divers Gens/Edition Berliner Unterwelten, 2005, S. 96)