1945 NS-Zwangslager in Berlin

Zu ende, aber nicht vorbei

Sonntag, 13. Mai 1945

Pertrix-Batteriefabrik: Rückkehr nach Polen

„Es gab eine ganze Gruppe von Polen, und wir, d.h. mein Papa und ich, gesellten uns zu ihnen. Wir liefen zu Fuß, kannten den Weg nicht. Wir waren hungrig und erschöpft. Es lag uns sehr daran, Berlin und überhaupt das deutsche Land so schnell wie möglich zu verlassen. Wir gelangten nach Posen, wo an der Bahnstation ein Zug mit vielen Wagen stand. Das russische Militär nahm verschiedene Maschinen aus den Fabriken und brachte sie nach Russland weg. Sie nahmen uns in einem Waggon auf, in dem bereits ein Dutzend Soldaten saßen, die die Maschinen bewachen sollten… Zum Glück gelangten wir nach Warschau. Von Warschau waren nur Trümmer geblieben, es gab keine Straßen, keine Häuser. Dort erfuhren wir, dass die Deutschen die Kapitulation unterzeichnet haben.“
(Erinnerungen der ehemaligen polnischen Zwangsarbeiterin Janina Łyś)

Janina Łyś wird am 3. Dezember 1923 in Mokre bei Zamość (heutiges Ostpolen) geboren. Ihre Kindheit verbringt sie in Lublin, wo sie ein privates Gymnasium besucht. Im Sommer 1939 wird der Vater zum Wehrdienst eingezogen. Er kehrt Ende 1942 zurück, als die deutschen Behörden gerade damit beginnen, im Rahmen des „Generalplans Ost“ die nicht-jüdische Bevölkerung von Zamość und Umgebung nach Deutschland zu deportieren.
Janina und ihre Eltern werden zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Im Durchgangslager Wilhelmshagen wird die Familie der Batteriefabrik Pertrix (Quandt-Konzern) in Berlin-Schöneweide zugeteilt. Untergebracht sind sie von nun an in einer Baracke in der Adlershofer Straße (Heute: ungefähr Bruno-Bürgel-Weg 84). Janina Łyś muss täglich von 7 bis 18 Uhr an einem Fließband arbeiten, wo sie Elektrolyt in Batteriehülsen füllt. Die Arbeit ist extrem gefährlich, Arbeitshandschuhe werden ihr verweigert. Eingearbeitet wird Janina von einer Berliner Jüdin, die wenige Wochen später verschwindet. Die Pol*innen aus der Region Zamość waren als Ersatz für in die Vernichtungslager deportierte Deutsche Jüd*innen in die Fabriken geholt worden.

Die Ernährungssituation im Lager ist sehr schlecht. Manchmal kann Janina von ihrem geringen Lohn allerdings etwas Gemüse kaufen. Bei Luftangriffen können die Zwangsarbeiter*innen im Lager sich nur sehr schlecht in Splitterschutzgräben schützen. Noch 1943 wird Janinas Mutter wegen einer Erkrankung zurück nach Polen geschickt.
Kurz vor Kriegsende, Anfang April 1945, wird Janina Łyś von einem Meister misshandelt, der ihr androht, sie wegen Arbeitsverweigerung bei der Gestapo anzuzeigen. Sie wehrt sich und warnt den Mann, ihn nach dem sowjetischen Einmarsch bei den Russen zu melden. Diese Drohung zeigt offenbar Wirkung und der Meister lässt von ihr ab: Die Angst vor der herannahenden Roten Armee ist im Frühjahr 1945 in der deutschen Bevölkerung bereits sehr groß. Kurze Zeit später erlebt Janina in Schöneweide die Befreiung.

Einige der ehemaligen Zwangsarbeiter*innen aus Polen berichten später, dass sie sich noch im Frühjahr und Sommer 1945 zu Fuß, mit Fahrrädern oder mit etwas Glück auf der Ladefläche eines LKWs oder Güterzugs auf den Heimweg machten. So auch Janina Łyś: Gemeinsam mit ihrem Vater schlägt sie sich nun zu Fuß nach Poznań durch. Von dort aus gelangen sie auf einem Güterzug über Warschau nach Zamość. Nicht wenige Pol*innen sperren sich jedoch gegen die Rückkehr: Sie lehnen das neue kommunistische System in ihrer Heimat ab oder möchten nicht in das von der Sowjetunion annektierte Ostpolen zurückkehren. Während ein Großteil der Displaced Persons (DP) aus der Sowjetunion noch 1945 repatriiert wird, versucht ein Teil der befreiten Pol*innen nach Nordamerika auszuwandern. Viele gelangen als „Heimatlose Ausländer“ nach Westdeutschland.

Janina Łyś heiratet noch 1945 und lebt anschließend mit ihrem Mann und den 1948 und 1954 geborenen Kindern in Danzig und Warschau. Infolge ihrer Arbeit bei Pertrix leidet sie ihr Leben lang unter gesundheitlichen Problemen.

(Quellen: Erinnerungsbericht der ehemaligen polnischen Zwangsarbeiterin Janina Łyś vom 9. Juli 2014, Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit; „Für immer gezeichnet. Die Geschichte der ‚Ostarbeiter‘, Hrsg. Memorial International, Moskau und Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, Ch. Links Verlag: Berlin 2019)