1945 NS-Zwangslager in Berlin

Zu ende, aber nicht vorbei

Sonntag, 22. April 1945

Teltow: Nikolaj Fjodorowitsch Galuschkow

„Am 22. April wurden alle 37 Menschen herausgeführt. Wir wurden durchgezählt und gefesselt. Ich wurde mit Uljantschenko zusammengefesselt. Es wurden noch drei Leute dazu gebracht. So wurden wir 40. Darunter war eine Frau. Und ein alter Mann, der nicht ganz bei Verstand war. Wir wurden schnell weggeführt. In der Nähe gab es eine U-Bahn-Station. Ich habe vergessen, wie sie hieß. Wir kamen in die Friedrichstraße… Die Leute schauten uns an mit Schrecken, wir waren ja völlig abgezehrt. Halbskelette standen dort... Danach sind wir noch einmal umgestiegen. Ostkreuz… Ostbahn… Großbeeren, daran erinnere ich mich.“

„Es gab eine sehr starke Bewachung bis Teltow. Weiter führte man uns zu Fuß… Wir haben das Ziel erreicht. Eine Baracke. Dort gab es einen SS-Verband, der uns entgegentrat. Wir wurden vor der Baracke aufgestellt. Als Kleidung hatten wir nur Hose und Hemd. Trotzdem wurden wir gründlich durchsucht. Eine gewisse Zeit später trat einer von der Truppe nach vorne: Schnell! Panzer!
Dann mussten wir antreten. Wir klammerten uns aneinander. Ein SS-Mann schlug mich mit dem Gewehrkolben auf den Hinterkopf und ich ging zu Boden. Als die Schießerei begann, fielen alle um, sofort. Als ich wieder zu mir kam, war Stille, nur die Verwundeten stöhnten. Ich lag neben einem Haufen lebloser Körper und sah einen ersten russischen Panzer heranrollen. Die rettende Sowjetarmee hatte Berlin erreicht.“


1942 wird Nikolaj Fjodorowitsch Galuschkow aus der russischen Stadt Perwomajskij in das Deutsche Reich verschleppt. Der 15-jährige wird als Totengräber in das „Friedhofslager“ an der Hermannstraße in Neukölln geschickt. Das Zwangslager wird eigens von den 42 Berliner Kirchengemeinden betrieben. Tag für Tag müssen Galuschkow und seine Kameraden im ganzen Stadtgebiet Gräber ausheben und Tote bestatten. Beim Versuch mit anderen Mitgliedern einer Widerstandsgruppe zu fliehen, fällt er der Gestapo in die Hände. Galuschkow wird in das Gestapo-Hausgefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße gebracht, wo man ihn und 30 andere Gefangene nach zwei Monaten Haft, Folter und Verhören zum Tod durch Erschießen verurteilt.
Am 22. April schaffen SS-Leute Galuschkow und seine Mithäftlinge mit der S-Bahn nach Teltow, am südlichen Stadtrand von Berlin. Als das Erschießungskommando das Feuer auf die dichtgedrängte Gruppe eröffnet, wird Galuschkow unter den Körpern der anderen begraben. Er überlebt die Mordaktion in letzter Sekunde, als plötzlich sowjetische Panzer anrücken - die Gestapo zieht ab, noch bevor Galuschkow von den Schüssen getroffen wird.
Unmittelbar nach der Befreiung zieht das sowjetische Militär Galuschkow zur Ableistung seines Wehrdienstes ein. Später zieht er nach Komi am nördlichen Polarkreis, dann nach Orel, nahe Moskau. Er arbeitet als Lokomotivheizer und Maschinist.

Sonntag, 22. April 1945

Heinersdorf: "Um 16 Uhr hatten wir unsere Freiheit wiedererlangt"

„Der 22. April war ein Sonntag und ein warmer und sonniger Tag. Das Dröhnen war deutlich nähergekommen, angeblich befanden sich die Russen schon 20 km von uns entfernt. Die Bewohner von Osdorf versammelten sich vor ihren Häusern, man unterhielt sich aufgeregt. Es wurden irgendwelche Fuhrwerke vorbereitet, um nach Westen zu gelangen, bevor die Russen Berlin umzingeln. Ich hatte an diesem Tag einen freien Nachmittag und beeilte mich, nach Heinersdorf zu kommen. Meinen Koffer ließ ich im Keller zurück. Ich wollte nur noch Frau Müller sagen, dass ich weggehe. Da ich am Badezimmer vorbeigehen musste, bemerkte ich, dass es im Badezimmerofen brannte. Wozu hatte die Müller den Ofen angezündet? Ich ging hinein. Die Ofentür stand offen, und neben dem Ofen, an die Badewanne gelehnt, stand der leere Rahmen des großen Hitler-Bildes, das auf dem Ehrenplatz im Wohnzimmer gehangen hatte… Frau Müller fand ich auf dem Weg vor dem Haus. Auf meine Worte, dass ich nach Heinersdorf ginge, entgegnete sie nichts. Ich ging schnell davon – und habe sie nie wieder gesehen.“

„Vom frühen Morgen an lebten alle in großer Aufregung. Die in Heinersdorf beschäftigten Polen wollten die Russen auf würdige Art begrüßen. Am Abend zuvor hatten sie die alte Ciesielska dazu überredet, auf ihrer Handnähmaschine eine polnische Fahne zu nähen. Am Morgen schlichen sie sich auf den Turm des Gutshauses und hängten die Flagge an den Mast. Um 10 Uhr entdeckten die Deutschen die Fahne, aber keiner von ihnen brachte den Mut auf, auf den Turm zu steigen und sie abzunehmen. Nur der Gendarm verhaftete Zdisiek Ciesielski, den Hauptschuldigen. Man wusste nicht, was mit ihm wird. Es wurde erzählt, man wolle ihn erschießen. Das haben sie aber nicht mehr geschafft, weil die Schießerei ganz nahegekommen war..."

„Plötzlich liefen einige deutsche Soldaten am Haus entlang, verschwitzt und außer Atem, dann riefen noch einige nach Wasser, und plötzlich hörten wir russische Rufe. Wieder brach eine scharfe Schießerei los, diesmal gleich hinter uns, neben der Scheune, und in unsere Wohnung stürzten zwei sowjetische Soldaten. Sie fragten schnell nach den Deutschen und liefen weiter.
Am 22. April um 16 Uhr hatten wir unsere Freiheit wiedererlangt.“


Hintergrund:
Im Mai 1941 wird Ludomiła Szuwalska in ihrer polnischen Heimat von deutschen Gendarmen aus dem Schlaf gerissen und zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich geschickt. Sie gelangt zunächst in ein Sammellager im Nordosten Berlin. Wenige Tage später wird die Familie zur Arbeit in der Landwirtschaft auf einem Gutshof in Heinersdorf, südlich der Berliner Stadtgrenze, gebracht. Einst im Besitz einer jüdischen Familie, war der Guts-Komplex nach 1933 enteignet und der Berliner Stadtverwaltung übergeben worden. Dort arbeiten bereits mehrere polnische Familien und leben auf engstem Raum zusammen. Im Juni 1942 wird Szuwalska von ihrer Familie getrennt und auf den Hof der offen vom Nationalsozialismus überzeugten Familie Müller, im benachbarten Osdorf
geschickt. Hier muss sie ohne Heizung in einer winzigen Dachkammer leben und im Haus sowie im Garten arbeiten.